18. Dez
2013

1 Jahr nach der Massenvergewaltigung in Delhi

Dr. Gabriele Venzky: Indien – ein Jahr nach der Massenvergewaltigung

Sie war gerade erst 13 geworden, als sie vier Männer sich schnappten, auf ein Feld schleppten und sie stundenlang vergewaltigten. Dass sie das überlebte ist ein Wunder. Noch erstaunlicher ist, dass sie drohte, die vier anzuzeigen. Das war ihr Todesurteil. Die Männer übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an. Ihr Todeskampf dauerte sechs Stunden. Eine Anzeige haben ihre Eltern nicht erstattet. Sie haben Angst. Angst vor den Vergewaltigern, denn die gehören zu den hochkastigen Hindus im Dorf und sie selbst sind ja nur Outcasts, Kastenlose, aber auch Angst vor der Polizei, denn die glaubt ihnen nicht, und überhaupt, von ihresgleichen wird keine Anzeige aufgenommen. Außerdem wissen sie, wie es der Familie der Zwölfjährigen im Nachbardorf erging, die auch von mehreren Männern vergewaltigt worden war und überlebt hatte. Das geschändete Kind war sofort aus der Schule geworfen worden, der Vater, ein Tagelöhner, fand keine Arbeit mehr, weil er angeblich seine Ehre verloren hatte. Schließlich nahm er sich das Leben – wegen der Schande. Und die Vergewaltiger laufen immer noch frei herum. So sieht es aus, in Indien auf dem Lande.

Aber kaum anders ist es in der Stadt. Erst am 11.12. fand man mitten in Delhi, auf einem Parkplatz am Connaught Place ein blutendes, halb aufgerissenes kleines Mädchen, weggeworfen wie ein gebrauchtes Handtuch. Drei Männer hätten das getan, sagte das völlig verstörte Kind. Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen. Auch die 25jährige Frau, die schwer verletzt in einem Straßengraben lag, konnte nur noch sagen, dass sie von mehreren Männern in ein Auto gezerrt worden war, abends um acht, auf dem Heimweg von der Schicht in der Fabrik in ihre „Kolonie“. Gefährlich ist es, in den unbeleuchteten Slums, aber genau so gefährlich ist es mitten in der beleuchteten Metropole. Zwei Drittel aller befragten Frauen sagen, dass sie sich im Dunkeln nicht mehr auf die Straße trauen. Kein Kino, kein auswärtiges Essen, keine Besuche mehr, und vor allem keine Busse und Bahnen, nicht einmal die Metro. „Ich lebe, seit ich denken kann, in ständiger Angst“, sagt selbst eine gut situierte Freundin, in Angst vor Gewalt, in Angst vor Vergewaltigung, in Angst als ein Nichts ausgerottet zu werden.

Das ist Indien, ein Jahr nach der grausigen Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in Delhi, die wenige Tage später an ihren schweren inneren Verletzungen starb. Nirbhaya nennen sie Jyoti Singh „die Mutige“, die noch auf dem Totenbett eine genaue Schilderung des Geschehens abgab, worauf die sechs Täter gefasst werden konnten. Die sind – einer hat sich in der Zelle erhängt – inzwischen verurteilt worden: einer, bei der Tat angeblich minderjährig, zu drei Jahren Jugendheim, die anderen vier zum Tode durch den Strang. Ihr Revisionsverfahren läuft derzeit vorm Obersten Gericht. Zwei der Verurteilten beharren darauf, bei der Tat gar nicht anwesend gewesen zu sein, ein Dritter will plötzlich ebenfalls minderjährig gewesen sein.

Zu Tausenden, ja Hunderttausenden waren nach der Gruppenvergewaltigung von Nirbhaya vor einem Jahr die Menschen auf die Straßen gegangen um gegen die unvorstellbare Gewalt gegen Frauen in Indien zu protestieren, vor allem junge Frauen und – zum ersten Mal in diesen Zahlen – auch junge Männer. Denn die 23jährige war eine von ihnen, eine aus der aufstrebenden unteren städtischen Mittelschicht. Es hätte genau so gut eine von ihnen treffen können, meinen die jungen Demonstrantinnen, die sich in dieser Woche abermals zu Demonstrationen versammeln. Der Vater der Ermordeten war mit seiner Familie nach Delhi gezogen, damit Jyoti dort eine Ausbildung machen konnte, schuftete 16 Stunden als Gepäckträger auf dem Flughafen, um ihr das Studium zu ermöglichen, und sie kam tatsächlich mit brillanten Examensergebnissen nach Hause. Viele der jungen Leute in Delhi haben einen ähnlichen Hintergrund.

Hat Jyotis Tod, der ganz Indien, ja die ganze Welt erschütterte, in Indien etwas verändert?

Die Antwort ist ja und nein, wobei das Nein wohl überwiegt.

Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde das Sexualstrafrecht verschärft, „um den Eindruck zu erwecken, dass etwas geschieht. Aber in Wirklichkeit passiert kaum etwas“, kritisiert Ratna Kapur, Anwältin beim Obersten Gericht. Denn die Politik wird von Männern beherrscht, die kaum ein Interesse daran haben, das Los der Frauen zu verbessern. Fast ein Drittel aller Abgeordneten in den Parlamenten haben schließlich Verfahren gegen sich laufen, wegen Mord, Raub, Vergewaltigung, Korruption. Eine Quote von 30 Prozent der Sitze für Frauen im Nationalparlament wurde abermals abgeschmettert, obwohl das Oberhaus sie befürwortet.

Dennoch: Die brutale Vergewaltigung und die anschließenden Massendemonstrationen markieren in Indien einen Wendepunkt. Indien ist aufgewacht, ein Teil Indiens – muss einschränkend gesagt werden, dass städtische, moderne, junge Indien. Dieses Indien will die allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen nicht länger als etwas völlig Normales hinnehmen. Die Frauen wehren sich, sie bewaffnen sich, sie machen Selbstverteidigungskurse, sie schreien das ihnen angetane Unrecht laut heraus, sie fordern Freiheit und Gleichheit. Und sie haben zumindest in Delhi dieses Jahr doppelt so viele Vergewaltigungen angezeigt, wie im vergangenen, weil das Thema enttabuisiert wurde, durch ständige und erstaunlich seriöse Berichterstattung in den Medien, dadurch, dass Bollywoodgrößen sich auf die Seite der Protestierenden stellten, dass Dokumentarfilme und Straßentheater das Thema Gewalt gegen Frauen aufgegriffen haben.

Auch das Notruftelefon 181 antwortet endlich, eine halbe Million mal wurde es im letzten halben Jahr in Anspruch genommen. Das zeigt, was los ist in Delhi. Freilich sitzen am anderen Ende der Leitung immer noch nicht die versprochenen Polizistinnen, sondern Männer. Nur sieben Prozent der indischen Polizei sind weiblich. Auch wurden, wie versprochen, neue Streifenwagen angeschafft. Aber sie sorgen nicht für mehr Sicherheit in der Stadt, sondern stehen bereit zur Bewachung so genannter wichtiger Persönlichkeiten, den VIPs.

Geradezu sensationell ist aber das jüngste politische Geschehen in Delhi. Dort wurde soeben die seit Menschengedenken regierende Kongress-Partei bei Wahlen verheerend geschlagen, und zwar von einer erst seit einem Jahr existierenden Partei, die sich den Kampf gegen den alten, untätigen Schlendrian, gegen Korruption und Bürgerverachtung , wenn auch nicht explizit Frauenverachtung, auf die Fahnen geschrieben hat. Das städtische Indien will die Abkehr vom Ewiggestrigen, das in Untätigkeit verharrt.

Doch noch einmal: Es sind die Mittelschichten der Städte, die Veränderung anstreben, die vorankommen wollen. Auf dem Land ist alles mehr oder weniger wie immer. Aber schlimmer noch, auch in den Slums der Städte, die allesamt Klumpen kleiner Dörfer sind, hat sich nichts verändert. Da gibt es keine Nummer 181, da sind Frauen nicht mehr als ein Ding, ein Sex-Objekt, mit dem man machen kann, was man will, ein missachtetes Nichts. Da gilt die Tatsache, dass in Indien fast jede Minute ein minderjähriges Mädchen, ein Säugling oder eine Frau vergewaltigt werden als nichts Besonderes, weil es immer schon so war. Schließlich muss doch denjenigen eine Lektion erteilt werden, die es wagen könnten, an der männlichen Vormachtstellung zu kratzen oder die gar versuchen, Männern den Job wegzunehmen. Frauen auszurotten, sie zu versklaven, sie zu verkaufen, sie zu verschleppen, Prostitution, Ehrenmorde, häusliche Gewalt, all das gilt nach wie vor als legitimes Männerrecht. Und zwar im größten Teil Indiens. „Wir leben in zwei total unterschiedlichen Welten“, sagt die Soziologin Nandini Sardesai. „Die patriarchalische Männergesellschaft versteht nicht, dass sich draußen in der Welt etwas verändert hat. Dass Frauen auch Menschen sind. Darauf reagieren sie mit rüdem, animalischen Instinkt.“

Der Vater der ermordeten Jyoti Singh hat jedoch noch nicht alle Hoffnung aufgegeben. „Ihr Opfer wird nicht umsonst gewesen sein. Die Dinge müssen sich ändern“, sagt er. Aber das wird noch lange dauern. Denn auch wenn die Politik eine neue Richtung nehmen sollte, es ist vor allem die Gesellschaft, die sich verändern muss, von unten nach oben: Durch das Engagement von Mädchen und Frauen, die nicht länger in Unwissenheit gehalten werden.