17. Mai
2020

Gabriele Venzky zur LIFT Corona-Aktion

Von Dr. Gabriele Venzky – 17.5.2020

Liebe Spenderinnen und Spender,

zunächst die gute Nachricht: Auf unseren Spendenappell für die Corona-Hilfe in Indien haben Sie schnell und großherzig reagiert, wofür wir Ihnen herzlich danken möchten. Es sind auf diese Weise unglaubliche Euro 62.000 zusammengekommen. Mit dieser Summe können fast 25.000 Menschen zwei Wochen lang vor dem Verhungern bewahrt werden.

Nun die schlechte Nachricht: Zwar sind die erschreckenden Bilder, die zeigen, wie Hunderttausende versuchen voller Panik Züge und Busse zu entern, um noch vor dem plötzlichen Lockdown in ihre Heimat zurückzukommen, aus unseren Zeitungen und Fernsehnachrichten verschwunden; aber das Chaos in Indien hat sich seitdem in unbeschreiblicher Weise vergrößert. Inzwischen weiß man, dass nicht Hunderttausende von einer Minute auf die nächste Ihre Arbeit und damit jegliches Einkommen verloren haben, sondern dass 80 Millionen Wanderarbeiter (das entspricht etwa der Bevölkerung Deutschlands) fernab ihrer Dörfer gestrandet sind, ohne eine Rupie in der Tasche. Denn wer am Tag nicht mehr als zwei Euro verdient, der hat weder ein Bankkonto noch irgendwelche Rücklagen. Das gleiche gilt für die etwa 300 Millionen Tagelöhner, zu denen auch die Eltern der 300 von LIFT in Schule und Ausbildung geschickten Mädchen gehören. Das heißt: Kein Job, kein Geld, kein Essen. Sie alle, die von der Hand in den Mund leben, drohen zu Verhungern.

Unsere Projektpartnerinnen in Indien, die Helpers of Mary, sind wahrhaftig hart im Nehmen, sind sie doch überall da tätig, wo in Indien die bitterste Armut und die größte Hoffnungslosigkeit herrscht. Doch was sie jetzt in der Corona-Krise erleben, lässt sie schier verzweifeln. „Die Leute stehen schon früh morgens vor unserem Tor. Nein, betteln tun sie nicht, aber sie flehen uns an, ihnen etwas zu essen zu geben, weil sie seit Tagen nichts gegessen haben. Die Schlangen werden immer länger“, berichtet uns eine der Schwestern. „Und wir, wir geben ihnen, was wir ergattert haben, immer wieder auch das, was wir für die eigene Versorgung beiseitegelegt haben.“ Denn, so die Generaloberin des Ordens, Sr. Priya, „der Lockdown ist ein weiteres Mal verlängert worden; er hat Verzweiflung und Dunkelheit in das Leben der Menschen gebracht. Jeden Tag, den sie keine Arbeit haben, beenden sie, ohne etwas gegessen zu haben.“

Am 25. März verhängte die indische Regierung wegen der rapiden Ausbreitung des Corona-Virus mit nur vier Stunden Vorwarnung eine totale Ausgangssperre. Damit löste der Staat eine humanitäre Katastrophe von einem Ausmaß aus, wie sie Indien seit 50 Jahren nicht mehr erlebt hat, ohne sich um die Folgen für die Menschen zu kümmern.

Doch wie immer, wenn in Indien der Staat versagt, sind es die Marys, die einspringen. Seit Wochen arbeiten sie praktisch Tag und Nacht, um Menschen vor dem Verhungern zu retten. Dazu brauchen sie das Geld aus Deutschland, das Sie gespendet haben. Die 62.000 Euro setzen sich zusammen aus 30.765 Euro, die Leser der „Rheinpfalz“ spendeten, 11.450 Euro, die aufgrund unseres Appells auf dieser Webseite zusammenkamen, 15.000 Euro von der Peter und Luise Hager Stiftung, und 4.785 Euro, die wir von unserem LIFT-Konto nahmen.

Natürlich ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, und wir werden uns weiter bemühen müssen zu helfen. Aber auch die anderen deutschen Andheri-Kreise sammeln eifrig, und so haben die Sisters bereits fast 100.000 Menschen helfen können, indem sie Lebensmittelpakete verteilen. Solch ein Paket enthält 5 bis 10 Kilo Reis oder Weizen, Gemüse, Linsen, Zucker, Speiseöl, Zwiebeln, Tee, Seife, Gesichtsmasken und natürlich Chili, denn je schärfer das Essen ist, desto mehr wird der Hunger unterdrückt. Im Augenblick kostet ein solches Paket durchschnittlich 15 Euro, aber seit Beginn der Corona-Krise sind die Lebensmittelpreise bereits um ein Drittel gestiegen, und der Preisanstieg setzt sich fort.

Im Mutterhaus der Marys in Andheri, einem Vorort von Bombay (Mumbai) müssen alle ran, um  Überlebenspakete zu packen und Masken zu nähen, alle Schwestern, auch die 30 dort gestrandeten jungen Frauen, die gerade zu Paramedics, also einer Art Sanitäterin, ausgebildet wurden, und selbst die alten Frauen aus dem Altersheim. Ähnliche Aktivität herrscht in allen 60 Stationen der Marys im ganzen Land. In den Heimen, in denen die von LIFT betreuten Mädchen in die Sommerferien zu ihren  Eltern aufgebrochen sind, werden besondere Versorgungslinien zu diesen Familien aufgebaut, damit die Kinder gesund zurückkommen, wenn der Schulbetrieb wieder aufgenommen wird. In Premanjali sitzen allerdings mehrere Abiturientinnen und College-Studentinnen fest. „Wir sind froh, dass sie uns nun helfen können“, schreibt die Oberin und schickt Bilder, die alle beim Packen zeigen. Aber auch in unserem LIFT-Heim Balwatika, wo 75 Mädchen der Klassen 2 bis 5 gestrandet sind, ist man froh über die vielen helfenden kleine Hände, und gleichermaßen, dass wenigstens diese Kinder sicher versorgt werden. Von den anderen kamen letzte Woche die Väter, –  sechs Stunden zu Fuß Hinweg, sechs Stunden zu Fuß Rückweg, um Rationen für ihre Familie zu holen.

Einige Stationen der Marys haben die behördliche Erlaubnis, ihre Häuser zu verlassen, um – häufig unter Polizeischutz und in „Zivil“, also ohne den rosa-beigen Ordenssari, der den Hindu-Fanatikern ein Dorn im Auge ist, Lebensmittel zu verteilen. „Wir bemühen uns sehr, das vorgeschriebene Social Distancing einzuhalten, aber macht das mal in einem Slum wie Dharavi, wo auf zwei Quadratkilometern eine Million Menschen hausen, wo Hunderttausende jetzt auf der Straße sitzen, weil der Slumlord sie aus ihrem 20 Quadratmeter-Zimmer herausgeworfen hat, das sie sich bisher zu zehnt geteilt haben, da sie Monatsmiete von 60 Euro nicht mehr bezahlen können,“ berichtet eine der Sisters, die mitten in diesem Slum lebt.

Von den Wohltaten, die der deutsche Sozialstaat nun in Corona-Zeiten verteilt, können Inder nur träumen. Nur 248 Millionen der 1,4 Milliarden Menschen haben einen festen Job, aber auch sie können wie alle anderen, die im sogenannten informellen Sektor arbeiten, diesen von einem Tag auf den anderen verlieren. Lohnfortzahlung, Kurzarbeitergeld, Überbrückungshilfen, Arbeitslosengeld, all das gibt es nicht. Die Regierung hat ein 287 Milliarden Euro Paket geschnürt, das die Wirtschaft wieder ankurbeln soll. 23 Milliarden sind davon für die Armen vorgesehen, allein 500 Millionen für gestrandete Wanderarbeiter. Doch welche Umfrage man auch heranzieht, 98 Prozent aller Betroffenen haben weder ein Lebensmittelpaket, noch die angekündigte Hilfssumme von 15 Euro pro Person gesehen. Verwunderlich ist das kaum. Indiens staatliche Mühlen mahlen langsam, besonders in Katastrophenzeiten. So sollen 80 Millionen Wanderarbeiter eine sogenannte Überlebensration von 5 Kilo Getreide und 1 Kilo Kichererbsen bekommen, aber nicht etwa jetzt, sondern erst in den kommenden beiden Monaten, –  vorausgesetzt, man findet die Leute überhaupt. Zwar wurde schon vor 40 Jahren gesetzlich verordnet, dass alle Wanderarbeiter, von denen niemand weiß, ob es 100 Millionen oder 150 Millionen sind, registriert werden. Doch bis heute ist das nicht geschehen.  Und bis heute haben noch längst nicht alle der 750 Millionen Armen, die eine Bezugskarte für subventionierte Lebensmittel erhalten sollen, diese ration card erhalten. Bis März 2021 soll es so weit sein, heißt es verheißungsvoll.

Geradezu grotesk mutet es an, dass ausgerechnet jetzt in Indiens Reis- und Weizenschüssel, den Staaten Haryana und Punjab, die größte Weizenernte aller Zeiten herangereift ist, aber kaum ein Arbeiter mehr da ist, um die Ernte einzubringen. Das Wenige, das geerntet wurde, liegt nun im Freien herum, weil es nicht verkauft und abtransportiert werden kann. Das wiederum bedeutet, dass die Bauern keine Erlöse haben, um Saatgut und Düngemittel für die nächste Saison zu kaufen. Ein neues Hungergespenst im Gefolge der Corona-Pandemie tut sich da auf. „Ohne Eure großmütige Hilfe können viele unserer Mitmenschen nicht überleben“, schreibt Generaloberin Sr. Priya in ihrem Dankesbrief an diejenigen, die schon jetzt so rasch geholfen haben.

Bereits rund 100.000 Menschen konnten die Helpers of Mary mit Überlebensrationen versorgen.

Die Schwestern bei der Ausgabe von Überlebensrationen

Die Schwestern erreichen auch viele Slumbewohner

Die Schwestern erreichen auch auf den Dörfern viele Menschen in Not.