13. Aug
2013

Säureattentate auf Frauen

Sie heißen Laxmi, Archana, Preeti, Haseena und Chanchal, und gerade ist Nisha dazugekommen. Sie sind alle jung, 15, 17 oder manchmal 25 Jahre alt, und sie hatten einmal ihr ganzes Leben noch vor sich. Das dachten sie zumindest. Bis zu dem Tag, an dem sich in Sekunden ihr Leben auf unvorstellbare Weise veränderte und alle Träume, die sie hatten, zunichte machte. „Es war am 22. Februar“ erzählt Laxmi. „Ich war gerade aus dem Bus ausgestiegen um zur Arbeit zu gehen, da kam er und schüttete mir Säure ins Gesicht, in meinen Ausschnitt und über die Arme. Ich war 15, aber mein Leben war damit eigentlich zu Ende.“ Grauenvoll zugerichtet wurde sie in ein Krankenhaus gebracht, das wenigstens ihr Leben rettete, aber sonst wenig für sie tun konnte. Als sie nach zweieinhalb Monaten zum ersten Mal in einen Spiegel schaute, konnte sie nicht glauben, was sie sah: das Gesicht – eine einzige, verbrannte Fratze, die Lippen – sie waren nicht mehr da, ihre Brust – ein wüster Fetzen Fleisch, die Arme – wie die Extremitäten eines Kadavers. Sie hatte Sängerin werden wolllen, war sogar schon im indischen Fernsehen aufgetreten. Nun sah sie so aus, dass die Menschen ihren Anblick nicht ertragen konnten. „Ich verlor mit einem Schlag alle meine Freunde, ich verlor meinen Job, ich traute mich nicht mehr, irgendwo hinzugehen. Aber ich war doch auch ein menschliches Wesen, dass unter Menschen sein wollte, ich war doch kein Monster“.

Was war geschehen? Es geschah das, was unzählige junge Inderinnen Jahr für Jahr erfahren: Ein Mann überschüttet sie mit Säure, weil sie seine sexuellen Avancen abwehren, weil sie ihn nicht heiraten wollen, weil sie ihm nur Töchter und keine Söhne gebären. Die Männer nehmen Rache, weil eine Frau es wagt, ihre männliche Eitelkeit zu verletzen. Wer das tut, dem muss „eine Lektion“ zu erteilt werden, denn – so die gängige Meinung in der patriarchalischen Gesellschaft –, Frauen hätten den Männern Respekt entgegenzubringen, und im übrigen, sei das Leben von Mädchen und Frauen ohnehin nichts wert. Dass viele der attackierten Frauen den Anschlag nicht überleben, dass sie blind werden, dass sie schreckliche Schmerzen erdulden und sich für den Rest ihres Lebens verstecken, was soll´s.

Wie die massenhaften Vergewaltigungen in Indien sind auch die massenhaften Säureattentate auf Mädchen und Frauen von der indischen Gesellschaft bisher als ein Teil des normalen Lebens angesehen worden. Die Frauen seien doch selbst schuld, hieß es, auch bei der Polizei, die wenig Veranlassung sah, solchen Verbrechen nachzugehen oder gar die Täter vor Gericht zu bringen. Das hat sich schlagartig nach der Massenvergewaltigung und dem Tod der jungen Studentin in Delhi im Dezember verändert, die Zehntausende junger Menschen in den Städten zu wochenlangen Protesten auf die Straße und das Parlament zu einer Verschärfung des Sexualstrafrechts brachte. Denn dort wurde zum ersten Mal Stalking wie auch Säureanschläge als Verbrechen deklariert. Seitdem sind Säureattentate ein Thema im modernen Teil der indischen Mittelklasse und in den Medien. Zum ersten Mal in der Geschichte Indiens wird in der Öffentlichkeitl darüber diskutiert, wie Indien seine Frauen behandelt.

Für Laxmi, die als 15-Jährige verunstaltet wurde, war diese öffentliche Aufmerksamkeit das Signal, zusammen mit anderen Säureopfern und engagierten Frauen die Bewegung „Stop Acid Attacks“ – „Stoppt die Säureattentate“ zu gründen. In Delhi hat die Organisation ein kleines Büro, wo betroffene Frauen Rat und Hilfe bekommen, wo dafür gekämpft wird, dass der Staat etwas für die Opfer tut. Aber noch wichtiger: Die verunstalteten Frauen zeigen erstmals überall ihr Gesicht. Laxmi tritt sogar im Fernsehen auf, und wenn junge Mädchen sie anstarren, dann sagt sie ihnen:“Das kann euch auch passieren“. Die letzten Wochen hat Laxmi stundenlang an Nishas Krankenbett gesessen, um ihr in den ersten schweren Wochen beizustehen. Nisha ist das jüngste Säureopfer in der endlosen Zahl, über die es keine Statistik gibt. Stop Acid Attacks schätzt, dass mindestens 1.000 Frauen im Jahr von Männern mit Säure überschüttet werden.

Opfer eines Säureattentates in Andheri

Mädchen mit schweren Verbrennungen bei den Marys in Andheri

Laxmi ist heute 23 Jahre alt. Sieben Operationen hat sie bereits hinter sich, erst jetzt kann mit plastischer Chirurgie begonnen werden. Aber sie hat sich nur vier Jahre nach dem Attentat versteckt. Dann, im Jahr 2009, brachte sie ihren Peiniger vor Gericht. „Der hatte so weiter gelebt, als sei nichts geschehen, sogar geheiratet hat er. Was sind das nur für Eltern, die ihre Tochter einem solchen Mann zur Frau geben?“, fragt sie heute.

Zehn Jahre bekam der Mann. Das war der erste Erfolg. Dann gelang es ihr und ihrer tüchtigen Anwältin, das Oberste Gericht zu veranlassen, den öffentlichen Verkauf von Säure zu verbieten und nur in speziellen Fällen gegen Unterschrift und Vorlage eines Ausweises abzugeben. Diese Anordnung ist nun in Kraft, nachdem das Gericht die Regierung, die sich darum zunächst nicht weiter kümmerte, mehrmals angemahnt hatte. Allerdings, Säure ist weiter überall zu haben. Indien bleibt auch in dieser Hinsicht Indien.

Den Frauen von Stop Acid Attacks geht es nun darum, eine ausreichende Entschädigung für die versehrten Frauen durchzusetzen. Die rund 3.500 Euro, die der Staat zahlt reichen bei weitem nicht, für die vielfältigen Operationen, die sich nach Auskunft des indischen Ärzteverbandes leicht auf 70.000 Euro summieren können. Außerdem gibt es kein staatliches Krankenhaus, das für die Behandlung von derartigen Verätzungen ausgerüstet ist. Für die Laxmis, Archanas, Preetis und wie sie alle heißen, steht also noch ein langer Kampf bevor. Eine der Aufgaben von LIFT e.V. ist es, die Mädchen in den von unserem Verein unterstützten Heimen so stark zu machen, dass sie in ihrem Umfeld beginnen, die Gesellschaft dazu zu bringen, auch Mädchen und Frauen als gleichberechtigte Menschen anzuerkennen.

– Dr. Gabriele Venzky